Toxische Positivität

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Es gibt etwas, was mir seit wenigen Jahren, und gerade in den letzten zwei Wochen auffällt:

„Wenn wir zusammenhalten, wird alles gut“
„Wir sind alle freundlich zueinander.“
„Ich bin ein positiver mensch, daher kann ich mich in negatives nur schwer wiederfinden“
„Hey. Alles wird gut. Wirst sehen“
„Ach ist doch alles nicht so schlimm.“

Und … ich möchte kotzen. Es gibt viele Menschen in meinem Umfeld, die sind so positiv, dass ich mich innerlich übergeben möchte. Zumal viele dieser Menschen es sich zur Aufgabe gemacht haben, die negativen Gedanken anderer nieder zu reden.
Sobald jemand innerhalb einer Diskussion z. B. etwas negatives in den Raum wirft, z. B. bedenken, werden sofort „Argumente“ gesucht, die das widerlegen. Und das auf biegen und brechen.

Ich verstehe, dass positives Verhalten und Äußerungen für die meisten Menschen angenehmer ist. Aber viele dieser „meisten“, blenden Negatives vollständig aus. Ich frage mich, ist das gesund?
So wie auch Negativität sehr toxisch sein kann, kann es auch Positivität. Ein positiver Mensch zu sein ist natürlich okay, aber sich nicht mit negativem Auseinandersetzen zu wollen ist … schwierig.

Menschen, die nicht so positiv eingestellt sind, könnten sich sehr oft unverstanden oder sogar herabgewertet fühlen. Uns negativen Menschen wird sehr oft vorgeworfen, wir wären nicht empathisch genug. Aus eigener Erfahrung weiß ich für mich jedoch, dass das nicht stimmt. Empathie hat jedoch ihre Grenzen.
Und sind positive Menschen, die allem irgendwas Gutes zuschreiben, könnte man doch das gleiche unterstellen. Oder sehe ich das falsch? Und am Ende machen sie exakt das Gleiche wie negative Menschen.

Doch ab wann kann Positivität zu viel werden?

Es gibt gerade im Netz seeeeeeeeehr viele Beispiele dafür. Aber ich denke, ich kriege das auch in eigenen Worten hin.

Man hatte eine unangenehme Begegnung mit jemanden, den man eigentlich nicht mag. Nach dieser Begegnung relativiert man dies z. B. mit „Aber jetzt hab ich wenigstens ein Eis“. Oder ein Freund arbeitete an einem Projekt, was aber schief gelaufen ist und es folgen Worte wie „Ach. Alles nicht so schlimm. Das Nächste wird sicherlich gut.“

Macht man das immer wieder, also eine negative Emotion oder ein negatives Ereignis mit positivem zu überlagern, oder die Situation herunterzuspielen, kann auf Dauer sogar krankhaft werden. Denn diese Menschen verlernen, offen mit ihren unangenehmen Dingen umzugehen. Sie verlernen, darüber zu sprechen und entsprechende Lösungen zu finden.
Auch sozial kann dies sehr, sehr schwierig werden. Irgendwann können sich Menschen deswegen auch abwenden. Diese Welt, die man dadurch schafft („Positive vibes only“), wird für viele unangenehm. Man mag einfach nicht mehr, mit dieser Person reden, denn sie finden an allem etwas Positives.

Was ich z. B. erlebt habe, dass ein Mensch, den ich wirklich sehr, sehr gern gehabt habe, so toxisch Positiv wurde, dass er nicht nur kontakte verloren hat, weil sie nicht mehr mit ihm reden konnten, sondern auch, dass dieser Mensch alle Kontakte aus seinem Leben gestrichen hat, die mit ihren Sorgen des Öfteren zu ihm kamen.
Ich verstehe (glaub ich), dass man sich mit Positivität umgeben möchte. Aber am Ende führt das zur Abkapslung und Einigelung. Man lebt in seiner eigenen kleinen Blase und alles, was dieses fragile Konstrukt platzen lassen könnte, wird nicht mehr an einem rangelassen.

Irgendwann lügt man sich gegenseitig nur noch an, bis der Kontakt, so wertvoll wie er für jemanden auch sein kann, abbricht. Und meist ist dieser Abbruch irreversibel. Kleiner Einwurf zwischen drin: Natürlich gilt das auch für toxisch negative Menschen. Aber in den letzten Jahren ist mir diese toxische Positivität überall aufgefallen. Auf Arbeit. Im Freundeskreis. Und auch einfach so im Internet.
Gerade unter Streamern ist toxische Positivität absolut der Renner geworden. Bloß nix negatives als Zuschauer in den Chat bringen. Meistens wird dafür eine Aussage genutzt wie:

„Mein Stream soll Spaß machen und daher möchte ich nicht, dass über negative Themen geredet wird.“

Und einige Streamer ziehen das auch rigoros durch. Da wird der Bann- oder Purge-Hammer schnell ausgepackt. Chatter die den Streamer mögen, denen es aber nicht so gut geht, werden mit ihren Sorgen sehr allein gelassen. Natürlich kann der Streamer, gerade bei größeren Streams, nicht der Kummerkasten für alle sein. Aber eventuell kann es die Community. Es gibt oft jemanden, der sich angesprochen fühlt und die Menschen auf einer anderen Kommunikationsebene unterstützen oder aufheitern kann.
Zusätzlich sind viele Zuschauer auch Einzelgänger im RL und haben nur das Internet. Das wird bei den „Positivity“ Streamern auch sehr oft vergessen oder … überspielt, wenn wir schon dabei sind. In solchen Streams halte ich mich generell nicht (lange) auf. Wenn ich einen Scheiß Tag habe, möchte ich das sagen dürfen.

Das Ende vom Lied

Allerdings habe ich auch festgestellt, dass wenn man Menschen darauf anspricht, sie oft in eine Blockadenhaltung gehen. Sie weigern sich rigoros anzuerkennen, dass ihre Positivität in vielen Momenten absolut nicht hilfreich ist. Genauso wie viele negative Menschen nicht anerkennen, dass in manchen Situationen ein bisschen Positivität hilfreicher wäre.
Am Ende, und gerade im Internet ist das der Fall, fehlt es uns immer mehr an Authentizität. An Ehrlichkeit. Es entstehen viele Blasen. Die Toxischen sind dabei die schlimmsten. Bist du permanent Negativ, und landest in so einer Blase, wirst du nur negativer und verschlossener. Genauso ist es umgekehrt. Am Ende ist das ein Teufelskreis, aus dem jeder für sich selbst herausbrechen muss.

Ich finde es tatsächlich schade, dass ich einer meiner „liebsten“ Kontakte durch toxisches Verhalten (in dem Fall halt positivity) vor längerer Zeit verloren habe. Aber vielleicht hilft dieser Blog einem oder vielleicht auf zweien zu sehen, dass Positivität im Übermaß genauso schaden kann, auf Sozialer aber auch auf psychischer Ebene, wie die Negativität, die bei mir angeprangert wurde.
Ach und es fällt auch unter die mental health Geschichte, weswegen das Coverbild auch ähnlich gestaltet ist. Ich setze mich aktuell sehr viel mit mental Heath allgemein auseinander.

Euer Gerry

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6 Kommentare zu „Toxische Positivität“

  1. Hm wow noch nie drüber nachgedacht, guter Gedanke. Nun sitze ich hier muss gleich arbeiten und grübel ob ich toxisch positiv bin Lach.
    Wird ein langer Tag…
    Aber du hast absolut recht , sollten so einige mal drüber nachdenken.

  2. Streamer die sich ihre eigene Bubble oder ihren persönlichen safe space schaffen, sind aber eine ganz andere Kategorie als Freunde und Familie, die dir gut zureden wollen. Die einen haben selber Probleme und wollen sich nicht noch mit denen anderer beschäftigen. Die anderen hingegen wollen einfach nur aufmuntern. Irgendwie wirfst du das aber beides in dieselbe Schublade? dogger4Shrug

    Ich für meinen Teil bin Realist. Wenn mir einer ankommt mit „Omfg das ist so toll“ bring ich ihn wieder runter auf den Boden der Tatsachen, damit er vor Lauter Euphorie die wichtigsten Dinge nicht übersieht und nicht etwa später enttäuscht wird. Und kommt einer und erzählt mir, wie doof alles ist, geb ich ihm Gründe, warum dem nicht so ist. Das hat nichts mit missverstehen zu tun oder dass man nur Positives hören und lesen will. dogger4Think

    Ich glaube solche Fälle wie du sie beschreibst, auch wenn du sie öfter erlebst als andere, sind da eher Ausnahme als Regel.

    1. Nein es gibt tatsächlich Streamer, die wirklich vehement alle negativen Nachrichten verbannen. Und einen Safe space schaffen bedeutet nicht, positiv bleiben zu müssen. Ein Safe Space ist etwas, wo man sich aufgehoben fühlt. Und nicht, ein Ort wo alles negative dieser Welt ignoriert oder verleugnet wird. Also generell ist die Schublade für beide Bereiche passend. Und wie immer gilt auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel.
      Ich kenne viele Viewer die Streams nicht mehr schauen, weil sie sich eben nicht mehr aufgehoben fühlten, als sie mal nen schlechten Tag hatten.

      Und jemanden immer Gründe geben zu wollen, (das trifft bei dir jetzt übrigens nicht zu) warum etwas nicht doof ist, kann tatsächlich auch ein toxisches verhalten sein. Manchmal ist es einfach auch gut mal zu positiven zu sagen „Ja das ist wirklich toll“ oder zu negativen „ja das ist wirklich doof“ ohne dass zwangsweise ein „ABER“ folgen muss. So wie Positivität ihren Raum braucht, braucht auch Negativität ihren Raum.

      Am Ende ist es genauso wie wenn es mir mist geht und zum Beispiel ein bekannter kommt „Aber du hast doch zwei tolle Männer“. Das is auf dauer eine toxische Relativierung. Genauso wie umgekehrt wenn einer einen kleinen … z. B. Gewinn macht und man das gleich relativiert mit „Aber denk dran dass du noch xyz machen wolltest.“

      Realismus is gut. Ich bin da ähnlich und bremse zu positive reaktionen auch aus und auch umgekehrt. Aber manchmal glaube ich, dass das eine nicht sooooo gute Idee ist. Das erfordert am Ende alles sehr viel Fingerspitzengefühl.

  3. Blöder Spruch aber wie heißt es so schön:
    „Die Menge macht das Gift“

    Es ist in beide Richtungen nicht gut und so ein Dauer positiv/negativ ist einfach nicht Gut.
    Allgemein dieses „ich lebe in meiner Bubble“ ist nicht gut, wenn dadurch der Realismus verloren geht.

    Und man muss auch einfach mal.sagen können „boar war das scheiße“ (oder eben toll)

    Aber immer nur das selbe zu hören nervt und wie du es so schön geschrieben hast, vertreibt man damit auch andere, weil sie es nicht mehr hören können oder wollen oder treibt sie weg, weil sie sich nicht mehr trauen was zu schreiben/sagen was dagegen ist

  4. Oft ist der Grund warum negative Dinge in Chats nicht erwünscht sind einfach der, daß dann plötzlich jeder im Chat Psychater, Arzt oder sonstwas ist, und es losgeht mit den „Tips“ .

    Wenn man nen scheiß Tag hatte ist das okay, kann man auch sagen, aber mehr sollte man auch nicht erwarten und sollte auch nicht passieren. Sowas sollte man eher privat oder halt weniger öffentlich als in einem Stream diskutieren.

    In erster Linie schaue ich (und viele andere auch) einen Stream zum Abschalten. Und viele Streamer streamen zum Abschalten. Und weil man selbst oftmals genug Probleme etc hat, möchte man dann auch nicht noch in Chats damit zu tun haben, außer es ist vielleicht gerade Just Chatting mit einem entsprechenden Thema.

    Aber wenn man grad ’n Spiel zockt, oder sich anschaut, dann zieht sowas halt alle runter, und dafür ist ein Stream einfach nicht da. Weder aus Zuschauersicht, noch aus Streamersicht.

    Kann das gut verstehen, das Streamer sowas dann komplett unterbinden. So wie du zB auch bestimmte Themen einfach komplett unterbindest (Politik), weil du sie nicht in deinem Stream möchtest. (Was ja auch okay ist, und das auch seeeeehr viele machen).

    1. Ich unterbinde in meinen Chats nicht Politik (das im Rudel hat andere Gründe und nicht mit mir zu tun).
      Tod ist ein schwieriges Thema in meinem Stream weil damit schon wirklich was schlimmes passiert ist. Und das ist das einzige Thema.
      Negatives rigoros zu unterbinden finde ich persönlich schwierig. Aber das hier ist auch nur meine persönliche Meinung.

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